Eine junge Frau wie aus der Zeit gefallen: Sie sitzt auf einem Stuhl in der Zimmerecke, das Licht fällt durch die Fenster hinter ihr, die Haare sind locker zusammengeknotet, sie trägt einen Pelzkragen, der an russische Winter denken lässt, ihre Mimik mutet madonnenhaft an – ein Blick voll Sehnsucht und Melancholie.
Alles begann mit jenem Autorenfoto Judith Hermanns, über das die Kritiker mindestens genauso viel geschrieben haben wie über ihr Debüt Sommerhaus, später (1998). Die Fotografin des Bildes ist Renate von Mangoldt. „Allgemein wird gesagt, dass das Foto von Judith Hermann mein bestes sei: Es war ein heller Wintermorgen und Hermann kam, so schön wie sie war: Sie trug ein Winterkleid mit Pelzbesatz, das Licht umgab sie mit einer Aura.“ Jene unbestimmte, einnehmende, melancholische Aura, die gleichermaßen von ihren Kurzgeschichten ausgeht.
So startete Judith Hermann ihre Karriere als Schriftstellerin; bis dahin war sie eine unbekannte Berlinerin von 28 Jahren. Sommerhaus, später, ein Band mit neun Kurzgeschichten, wurde gefeiert, die Kritiker sagten ihr eine großartige Zukunft voraus. Etiketten wurden ihr dabei vielfach von Feuilletonisten aufgedrückt: Berlin-Literatur, literarisches Fräuleinwunder, der Sound einer neuen Generation, Ikone der Popkultur.
Vieles davon lässt sich aus heutiger Sicht zurückweisen: Selbst das Fräuleinwunder wurde 2004 relativiert. Dazu zählten junge deutschsprachige Debütantinnen der Jahrhundertwende wie Karen Duve, Tanja Dückers, Alexa Hennig von Lange und Zoë Jenny, die in ihren Texten das Lebensgefühl ihrer Zeit einfingen. „In der ‚Süddeutschen‘ las ich, dass man jetzt dahinter käme, dass die Autorinnen des sogenannten deutschen Fräuleinwunders im Grunde genommen gar nichts zu erzählen gehabt hätten“, erklärt Hermann. „Es würde in all diesen Texten um immer dasselbe gehen, Beziehungsprobleme nämlich, und um sonst nichts.“
Fünf Jahre nach dem Debüt meldete sich Hermann mit Nichts als Gespenster (2003) zurück: Die Kurzgeschichte wurden länger, näherten sich mehr und mehr der Erzählung an und ihre Figuren entwickelten sich weiter – sie reisten, verließen Berlin. Der Ton ihrer Geschichten blieb derselbe, doch die Kritik blieb verhalten. Ihre neuen Geschichten seien naiv und trivial – es fehle an „Geschichte und Politik und Berufsleben und Arbeitswelt, Agenten der Sozialisation, Autoritäten, Vorgesetzte, überhaupt ‚Erwachsene‘“, so Kritikerin Alexandra Pontzen.
Sechs weitere Jahre ließ sie sich Zeit, bis der Band Alice (2009) erschien – fünf Geschichten vom Sterben und dem, was bleibt, wenn man geht. Gemeinsam haben sie Alice, die in allen Geschichten auftritt und in irgendeiner Beziehung zu den Verstorbenen steht, der Fokus liegt auf den Hinterbliebenen, den Überlebenden. Die Kritik fiel positiver als beim Vorgänger aus; die Stilsicherheit habe sie beibehalten. Andere bemängelten dagegen ihren Protokollstil, dessen Angestrengtheit und Künstlichkeit.
„Vielleicht ist Alice meine eigene Antwort auf Sommerhaus, später“, sagt Hermann, „Ich kann mich fragen, was ich dann im vierten Buch schreiben werde. Und vielleicht ist mit Alice auch etwas abgeschlossen.“ Was sich wie ein Versprechen für eine andere literarische Form liest, wurde inzwischen eingelöst: Der Debüt-Roman Aller Liebe Anfang erschien im August 2014 und behandelt eine zwischenmenschliche Grenzsituation, das Stalking, die zur Bedrohung für das Ehe- und Familienleben der Hauptfigur Stella wird. Die Kritikerstimmen polarisierten erneut, was jedoch alle erwähnten, ist Hermanns konsequenter Stil aus Beobachtung, Lakonie und dem Unausgesprochenen – ob er nun gefällt, oder nicht.
Was sie auch sagen: Hermann hat sich losgeschrieben, von den Kurzgeschichten, dem Literaturbetrieb und der Erwartungshaltung. Fräulein Hermann hat es geschafft, sich von den Etiketten zu befreien und aus dem Schatten von damals hervorzutreten: Frau Hermann zeigt sich auf ihrem aktuellen Autorenfoto standhaft, lächelnd, zufrieden – 16 Jahre älter als damals, mit dem Blick nicht in ein Später gerichtet, sondern in ein Jetzt.