Kennst du auch die Menschen, die lieber Nachrichten schreiben anstatt anzurufen? Die erst eine kurze Denkpause einlegen, bevor sie sprechen? Ich gehöre zu ihnen und kam erst vor wenigen Jahren dahinter, warum das so ist: Ich bin ein leiser Mensch – ich bin introvertiert.
Mit dem Schreiben habe ich mir zuerst intuitiv und dann ganz bewusst Inseln, Rückzugsorte und ein Denkwerkzeug geschaffen. Schreiben ist mein Weg, um in unserer lauten Welt zu bestehen. Und es ist kein Zufall, warum sich Introvertierte gerne schriftlich ausdrücken und unter ihnen einige Schriftsteller zu finden sind.
Was ist Introversion?
Introversion ist nur ein Ende einer Skala auf deren gegenüberliegenden Seite die Extraversion steht. Wir können im Laufe unseres Lebens und in unterschiedlichen Situationen verschiedene Positionen auf dieser Skala einnehmen. Wir alle kennen Bereiche, in denen wir uns extrovertiert oder introvertiert verhalten. Meist überwiegt die Neigung in eine Richtung. Wer beides zu gleichen Teilen in sich vereint, ist ambivertiert. Geschätzte 30-50 Prozent der Menschen weltweit sind introvertiert.
Die Begriffe introvertiert – nach innen gewandt und extrovertiert – nach außen gewandt gehen auf den Psychologen C. G. Jung zurück. Das wichtigste Merkmal der Persönlichkeitstypen ist, woher sie ihre Energie beziehen. Introvertierte neigen dazu, sich erschöpft zu fühlen, wenn sie viele Eindrücke zu verarbeiten und viele Menschen um sich herum haben. Um neue Kraft zu schöpfen, ziehen sie sich zurück und verbringen zum Beispiel einen ruhigen Abend mit einem Buch. Extrovertierte hingegen blühen in Gesellschaft auf und umgeben sich gerne mit vielen Menschen – daraus ziehen sie ihre Energie.
Ob wir eher intro- oder extrovertiert sind, ist eine Persönlichkeitsfrage und damit zu einem Teil Veranlagung. Introversion zeigt sich beispielsweise in der Ausstattung unseres Nervensystems. Sylvia Löhken, Expertin für introvertierte Menschen, erklärt es in ihrem Buch „Leise Menschen – gutes Leben“ wie folgt: „Intros haben ganz wörtlich ‚längere Leitungen‘ in ihren Hirnen, weswegen die Reize längere Strecken zurücklegen.“ Das heißt, wir verarbeiten Eindrücke langsamer und brauchen mehr Zeit zum Nachdenken.
Was es heißt, introvertiert zu sein
Freunde und Familie haben mich schon immer anders beschrieben als Lehrer oder Arbeitskollegen wenige Woche nach meinem ersten Arbeitstag. Wurde ich in der Schule eher übersehen, war ich in vertrauten Kreisen alles andere als leise. In Gruppen wiederum bin ich ruhiger und in Zweier-Gesprächen merkt man mir meine leise Art nicht mehr an.
Erst als ich einen Artikel über „outgoing introverts“, also introvertierte Menschen mit extrovertierten Merkmalen, gelesen habe, hatte ich endlich die Antworten, nach denen ich lange gesucht habe. Es tat so gut, zu lesen, dass mit mir alles in Ordnung ist. Seitdem kenne ich mich besser und weiß nun, wann ich mich in der Vergangenheit entgegen meines Naturells verhalten habe und ich deshalb an meine Grenzen gestoßen bin.
Warum schreiben gerade die leisen Menschen?
Introvertierte Menschen neigen dazu, verkopft zu sein und die Dinge immer wieder zu durchdenken. Dass gerade leise Menschen schreiben, ist ein Weg und manchmal auch eine Notwendigkeit, die Gedanken zu sortieren und abzustellen. Auf dem Papier, aus dem Kopf – das stelle ich bei mir immer wieder fest.
Weitere Gründe, wie das Schreiben introvertierten Menschen hilft:
- Schreiben ist entschleunigte Kommunikation: Wir haben mehr Zeit, um über unsere Antwort nachzudenken.
- Schreiben und Lesen sind einsame Tätigkeiten und Rückzugsorte, die uns helfen, Energie zu tanken.
- Beim Alleinsein kommen wir eher auf neue Ideen. In einem Essay beschreibt Science-Fiction-Autor Isaac Asimov wie Isolation die Kreativität begünstigt.
- Schreiben schafft Strukturen und lässt Ideen entstehen. Eine Methode, die beides miteinander verknüpft ist das Schreibdenken von Ulrike Scheuermann.
Introvertierte Schriftsteller
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, unter Schriftstellerinnen Introvertierte zu finden. Es gibt lange Listen mit Autorinnen, die als introvertiert gelten, z. B. Franz Kafka, Joanne K. Rowling, Haruki Murakami, Emily Dickinson, Edgar Allan Poe, Virginia Woolf…
Schreiben als Stärke im Alltag nutzen
Ihr lieben, leisen Menschen, seid euch dem Schreiben als Stärke bewusst und bringt sie mehr in euren Alltag ein! Damit lässt sich manchmal sogar ausgleichen, was ihr an euch als – vermeintliche – Schwäche wahrnehmt.
Ich habe dem Schreiben deshalb viel Platz in meinem Leben eingeräumt. Durch schwierige Phasen und Entscheidungsfindungen begleitet mich mein Journal, jeden Abend reflektiere ich den Tag in meinem Tagebuch. Meine Arbeit organisiere ich mit Unmengen Notizen – auf Papier und digital. Wichtige Termine bereite ich schriftlich vor, damit mir nicht die Worte fehlen. Im Kundenkontakt setze ich E-Mails gezielt ein – und meine Art, die Dinge fundiert darzustellen und auf den Punkt zu bringen, wird dabei sehr geschätzt.
Mit Freunden kommuniziere ich schriftlich und auch das hat, je nachdem wie lang die Nachrichten werden, etwas sehr Ordnendes für mich. Und ja, auch ich weiß, dass man mit einem Anruf manchmal schneller ans Ziel kommt – und dann rufe ich an, aber nicht ohne mir vorher Notizen zu machen (zumindest wenn es geschäftliche Anrufe sind).
Introvertiert oder extrovertiert?
Mit diesem Online-Test von Sylvia Löhken findest du heraus, ob du eher introvertiert oder extrovertiert bist. Wozu neigst du und wie hilft dir das Schreiben dabei? Wann ist es vielleicht sogar eine Hürde?
Quellen und weiterführende Literatur
Löhken, Sylvia (2017): Leise Menschen – gutes Leben. Das Entwicklungsbuch für introvertierte Persönlichkeiten. Offenbach: GABAL
Scheuermann, Ulrike (2012): Schreibdenken. Schreiben als Denk- und Lernwerkzeug nutzen und vermitteln. Stuttgart: UTB.
Oh ja, dass Schreiben eine entschleuigtes Denken ist, ist so wahr! Da kann man sich alles schön zurechtlegen 🙂 Wie oft habe ich mich schon darüber geärgert, weil mir in bestimmten Situationen nicht die richtigen Worte in den Sinn gekommen sind?
Das kenne ich nur zu gut 🙂 Erst wenn ich Zeit zum Überdenken hatte, drücke ich mich in Gesprächen viel klarer aus. Da wünsche ich mir manchmal mehr von den Menschen zu haben, die beim Sprechen fließend ihre Gedanken entwickeln und dabei auf neue Ideen kommen.
Hallo Ann-Christin,
Das bin ich, du hast mich genau beschrieben!
Schau doch gerne mal auf meiner Webseite vorbei, wo ich ein paar Schreibschnipsel veröffentlicht habe.
Jetzt werd ich mal weiter hier herumstöbern, das hilft sicher, mein Schreiben weiter zu verbessern.
Danke für diese Seite,
Anke
Liebe Anke,
es freut mich, dass du dich im Artikel wiedergefunden hast.
Sehr gerne schaue ich mir deine Seite genauer an – einen schönen Mix aus verschiedenen Textsorten hast du da.
Viele Grüße
Ann-Christin
„Es tat so gut, zu lesen, dass mit mir alles in Ordnung ist.“
Das kenne ich sehr gut! Vor allem tut es gut, wenn man diesem „Anders sein“ auch einen Namen geben kann. Mir selbst hat es dabei geholfen mich weiter selbst kennen zulernen und mit mir umzugehen 😀
Schreiben ist für mich persönlich ein wunderbares Mittel für Selbstreflexion und Gedanken sortieren. Früher nur für mich persönlich, inzwischen öffentlich im eigenen Blog.
Liebe Michaela,
das stimmt, seitdem ich einen Namen dafür habe, akzeptiere ich immer mehr diese Seite an mir und mag sie inzwischen sogar sehr gerne.
Schön, dass dir das Schreiben genauso wir mir dabei hilft, deine Gedanken zu sortieren. In den Themen auf deinem Blog finde ich mich wieder 🙂
Lieben Gruß
Ann-Christin
Hallo Ann-Christin,
ich habe auch das Schreiben gewählt, um mich als Introvertierte auszudrücken. Ich bin zwar auch in Konversationen (laut Aussagen anderer) ziemlich gut, aber um eine Sache wirklich zu durchdenken, brauche ich schon das geschriebene Wort 🙂 Es ist immer schön, wenn man Erfahrungsberichte liest und nicht über „Ach Introversion ist doch nur Schüchternheit“ stolpern muss. So langsam finden mehr und mehr Menschen Gefallen an ihrer introvertierten Seite.
Liebe Grüße
Jennifer
Hallo Jennifer,
ich finde es auch so schön zu sehen, dass sich das Bild, das die Öffentlichkeit von Introvertierten hat, wandelt und mehr über unsere Stärken gesprochen wird. Oder überhaupt, dass über Introversion geschrieben wird, denn ohne dieses Wissen hätte ich noch lange im Dunkeln getappt 🙂 Toll, dass du das Schreiben für dich entdeckt hast und einen Blog für Introvertierte führst.
Lieben Gruß
Ann-Christin