Literarisches Prag – Auf den Spuren von Franz Kafka
Prag – Praha. Da bin ich also in der Stadt an der Moldau, in der Franz Kafka geschrieben und die meiste Zeit seines Lebens verbracht hat. In einem Zitat von Eichendorff heißt es: „Wer einen Dichter recht verstehen will, muß seine Heimat kennen“. Und so habe ich mich aufgemacht, Prag zu entdecken und eine literarische Annäherung zu schreiben an diese Stadt und ihren bekanntesten Schriftsteller.
Ein Spaziergang durch die Prager Altstadt
Meine erste Begegnung mit Prag sind Straßenschilder mit verschluckten Vokalen: Hrad, Mlýný, Hřbitov. Auf die frühere Zweisprachigkeit weist nichts mehr hin. Alles ist auf tschechisch ausgeschildert, selbst die Sehenswürdigkeiten für die vielen Touristen. Ich starte am Platz der Republik. Touristen schwemmen die Straße vom Altstädter Ring bis zur Karlsbrücke. Es ist ein Stimmengewirr aus spanisch, französisch, englisch, chinesisch und tschechisch. Schnell wird mir klar, dass ich Prag in den nächsten Tagen nicht für mich alleine haben werde.
Kafkas Prag im frühen 20. Jahrhundert
Franz Kafka (1883 – 1924) wuchs in einem Prag auf, in dem Tschechen, Juden und Deutsche zusammen lebten, wobei die Deutschen eine Minderheit darstellten. Als Jude gehörte er damit einer doppelten Minderheit an. Auch wenn das meiste posthum und gegen seinen Willen an die Öffentlichkeit gelangte (sein Freund und Schriftsteller Max Brod veröffentlichte seinen Nachlass), gehört das Werk Kafkas zum Kanon der Weltliteratur. Bis heute werden seine Erzählungen und insbesondere Die Verwandlung in den Schulen gelesen.
Innerhalb Prags stehen sie fast alle noch und sind fußläufig zu erreichen: Das (wiedererrichtete) Geburtshaus am Franz-Kafka-Platz, die Wohn- und Arbeitshäuser. Da wären die ehemaligen Geschäftsräume von Kafkas Vater im Kinský-Palais am Altstädter Ring, Kafkas Gymnasium auf der Rückseite und nicht weit davon entfernt das Haus Minutá, in dem Kafka mit seiner Familie lebte. Eines seiner Arbeitszimmer befand sich im Goldenen Gäßchen, auch bekannt als Alchemistengasse mit der Nr. 22 und lässt sich auf dem Hradschin besuchen.
Kafka als verbotener Autor
Dass sich seine Spuren in Prag so gut nachverfolgen lassen und sichtbar sind, ist nicht selbstverständlich. Denn es gab ein ”politisch verordnete[s] Totschweigen”, wie Wolfgang Dömling es bezeichnet. Kafkas Werk wurde während der Zeit des Nationalsozialismus und später im kommunistischen Tschechien verboten. Mit der Rehabilitierung 1963 auf der so genannten Kafka-Konferenz öffnete sich Prag allmählich für den Schriftsteller. Sein Werk ist nun vollständig ins Tschechische übersetzt worden und die Franz-Kafka-Gesellschaft widmet sich seiner Wahrnehmung in der Öffentlichkeit.
Spurensuche im Franz-Kafka-Museum
Was wäre Prag ohne Kafka? Oder anders gefragt: Was wäre Kafka ohne Prag? Dieser Frage widmet sich die Dauerausstellung Die Stadt von K.: Franz Kafka und Prag. Auf der Kleinseite, nahe der Moldau gelegen, befindet sich das Franz-Kafka-Museum. Es wurde 2005 gegründet und als Ausstellungsraum dient der Dachboden einer Ziegelei.
Im Museum ist es dunkel. Das Licht ist aus und lediglich die Tische und Glaskästen werden angestrahlt. Zwischen den Ausstellungsstücken ist das Gebälk des Dachbodens sichtbar. Es herrscht eine düstere, beklemmende Atmosphäre, die gleichzeitig das Gefühl weckt, hier Schätze heben zu können. Zitate zieren die Wände, der Stammbaum und die Wohnorte in Prag werden nachgezeichnet und hinter Glas liegen Kafkas Briefe und Korrespondenz mit Behörden sowie Erstausgaben seiner Bücher. Die Rezeption seines Werks ist ebenso Thema wie Kafkas Beziehungen und Verlobungen, die Bürokratie und seine Erwerbsarbeit bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt.
Kafkas Leben und Literatur als Rätsel
Die Ausstellung wirft Schlaglichter auf Kafkas Leben. Ein Leben für das geschriebene Wort und die Literatur, das ihn, so suggeriert es die Ausstellung, letztendlich auch isoliert hat. Prag und Kafka. Eine Stadt, von der er nie fortkam und er, der sich immer wieder fürs Schreiben entschieden hat – und sich zwischen schriftstellerischem Schaffen und seinem Brotberuf zerrieben hat:
Mein Posten ist mir unerträglich, weil er meinem einzigen Verlangen und meinem einzigen Beruf, das ist der Literatur, widerspricht. Da ich nichts anderes bin als Literatur und nichts anderes sein kann und will, so kann mich mein Posten niemals zu sich reißen, wohl aber kann er mich gänzlich zerrütten.
Franz Kafka, Tagebücher 1910 – 1923
Vieles bleibt rätselhaft. Im Museum begegnet mir mehrmals der Begriff enigma, das Rätsel. Und vielleicht passen hierzu Willy Haas’ Worte über Kafka am besten:
Ich kann es mir nicht vorstellen, wie irgendein Mensch ihn überhaupt verstehen kann, der nicht in Prag und nicht um 1890 und 1880 geboren ist.
Willy Haas, Begründer der Zeitschrift „Die literarische Welt“
Mit ihrer geheimnisvollen Atmosphäre samt zugehörigem Soundtrack macht die Ausstellung vor allem eins greifbar: das Kafkaeske.
Prag als touristische Weltstadt
Zurück in der Altstadt duftet es während meines Spaziergangs alle paar Schritte nach Zimt und Holzkohle. Es sind Trdelník, mit Zucker und Zimt bestäubte Baumstriezel, die auf langen Rollen über der Kohle backen. Sie werden serviert mit Vanille-Softeis in der Mitte und sind der Kassenschlager in den Gassen. Ich kaufe mir eins und laufe weiter. Bei einer Straßenmusikerin bleibe ich stehen. Sie sitzt auf einem Hocker, auf ihren Beinen liegt ein Instrument. Zwei aufeinanderliegende Schalenhälfte, die wie der Panzer einer Schildkröte aussehen. Mit den Handflächen schlägt sie rund herum auf die Einkerbungen. Sanfte Melodien füllen die Straßen und locken Menschen an. Das Instrument nennt sich Hang, wie ich später herausfinde. Das Video der Musikerin kann ich mir zu Hause auf YouTube ansehen, weil es einer der filmenden Touristen online gestellt hat.
Prag damals und heute
Das touristische Treiben in Prag mag nichts mit Kafkas Prag zu tun haben. Doch beim Betrachten von schwarz-weiß Bildern zu Kafkas Zeiten scheint sich nicht allzu viel geändert haben. Die Bauten sehen heute genauso herrschaftlich aus, mit dem Unterschied, dass die Fassaden inzwischen mehrmals restauriert und herausgeputzt wurden. Geschichtsträchtig und doch irgendwie zeitlos. Dieses Gefühl habe ich, wenn ich mich in Prag umsehe. Und genau so sollte Weltliteratur sein.
Quellen und weiterführende Literatur
Dömling, Wolfgang (2011): Prag. Literarische Spaziergänge. Berlin: Insel Verlag.
Kafka, Franz. Tagebücher 1910 – 1923.
Roth, Joseph (2012): Heimweh nach Prag. Feuilletons, Glossen, Reportagen für das Prager Tagblatt. Göttingen: Wallstein Verlag.
Wagenbach, Klaus (1993): Kafkas Prag. Ein Reiselesebuch. Berlin: Klaus Wagenbach.