Was habe ich schon zu erzählen?! Warum biografisches Schreiben anders ist als du denkst
Wenn du an Biografien denkst, fallen dir dann auch als erstes die Bücher von (mehr oder weniger) prominenten Menschen ein? Menschen, die augenscheinlich Besonderes erlebt und ein bewegtes Leben hatten. Mit diesem Bild im Kopf ist es schwer, überhaupt nur anzufangen, über das eigene Leben und Erleben zu schreiben.
In diesem Artikel löse ich 7 weitverbreitete Missverständnisse über das biografische Schreiben auf. Biografisches Schreiben ist für jeden Menschen wertvoll, der sich zum Schreiben hingezogen fühlt – unabhängig davon, wo er herkommt, welche Schreiberfahrung er hat oder ob er das Geschriebene veröffentlichen will. Denn: In jedem Leben steckt eine Fülle von Geschichten, die es wert sind, erzählt und gehört zu werden.
Dieser Artikel will dir Mut machen. Denn beim biografischen Schreiben über das eigene Leben geht es nicht um Perfektion oder um ein fertiges Buch. Es geht um den Prozess, den du dabei durchlebst. Schreiben regt tiefgreifende Selbstreflexion an und kann dabei helfen, Erlebnisse zu verarbeiten, Klarheit über deine Gedanken und Gefühle zu gewinnen und dein Leben aus einer neuen Perspektive zu betrachten.
Was ist biografisches Schreiben und welcher Wunsch steckt dahinter?
Das Wort Biografie hat seinen Ursprung in der griechischen Sprache. Dort steht bíos für das Leben und -graphie für das Schreiben. Es sind also Lebensbeschreibungen oder das Aufschreiben/Beschreibens eines Lebens. Wer über sein eigenes Leben schreibt, schreibt autobiografisch (autós = selbst).
Unter (auto-)biografischen Texten finden sich viele unterschiedliche Formen: Briefe, Tagebücher, Erinnerungen, Memoiren, (Auto-)Biografien sowie (auto-)biografische Romane und Erzählungen. Über die einzelnen Genre ließe sich noch viel sagen – das ist in einem anderen Blogartikel besser aufgehoben.
Warum wir biografisch schreiben, berührt einen ähnlichen Bereich wie die Frage danach, warum wir überhaupt schreiben. In meinen Augen setzt sich die Antwort aus unterschiedlichen Facetten zusammen:
Sich selbst ausdrücken
Für viele Menschen ist das Blatt Papier ein geschützter Raum und das Schreiben ein Ventil, um (zunächst) nur vor sich selbst Gedanken und Gefühle sichtbar zu machen. Durch das Aufschreiben nehmen sie bewusster wahr, was in und mit ihnen geschieht. Sie drücken sich in Texten aus, statt die Worte, die sie nicht aussprechen können, runterzuschlucken. Solche Texte können die Grundlage sein, um später miteinander ins Gespräch zu gehen.
Verarbeitung der Vergangenheit
In jedem Leben gibt es Krisen und dunkle Zeiten. Ein Tagebuch beispielsweise kann in diesen Phasen ein Anker sein, der durch den Wellengang des Lebens trägt. Schon oft habe ich gehört, dass sich Menschen durch Krisen geschrieben haben. Ja, oft kamen sie erst durch eine Krise zum Schreiben. Schreiben ist ein inneres Aufräumen: Es sortiert Gedanken und Gefühle und so lassen sich schwere Ereignisse im Nachhinein neu bewerten und schreibend anders betrachten.
Der Wunsch, mit der eigenen Geschichte gesehen zu werden
Es gehört zu den natürlichen Bedürfnissen des Menschseins gesehen werden zu wollen. Auf dem Papier können wir uns diesen Platz nehmen. Wir können uns zuerst selbst sehen – mit all der Schwere und auch der Freude, die Teil unseres Lebens ist. Und wenn wir möchten, können wir danach die Geschichte teilen, indem wir sie vorlesen oder anderen zu lesen geben.
Spuren im Leben zu hinterlassen
In vielen Menschen lebt der Wunsch, bedeutsam zu sein. Manche bauen sich dafür Familien, Karrieren, Firmen oder Häuser als Vermächtnis auf. Wieder andere schreiben. Sie haben den Wunsch, dass das, was sie im Leben erschaffen haben, sie selbst überdauert. Sie wollen, dass andere sich an sie erinnern. Solche Denkmäler zeigen, dass wir gelebt haben und gleichzeitig geben sie etwas von uns an die Menschen nach uns weiter. In unseren Worten, Taten und Ideen lebt etwas von uns weiter.
Obwohl wir nicht wissen, welche Auswirkungen und welchen Einfluss diese Worte und Geschichten haben, so ist es doch eine schöne Vorstellung. Wie oft hat dich schon etwas berührt und beeinflusst, dass du gelesen oder gehört hast, ohne dass der Absender je davon erfahren hat? Also stehen die Chancen gut, dass auch deine Worte Spuren hinterlassen – zu Lebzeiten und vielleicht darüber hinaus.
Wenn du bis hierhin schon innerlich nicken konntest, dann wird dir klar, warum die folgenden Sätze Missverständnisse und Vorurteile über das biografische Schreiben sind.
Irrtum Nr. 1: Nur Prominente haben interessante Geschichten
Ist das wirklich so? Menschen, die im öffentlichen Leben stehen, ziehen natürlicherweise mehr Interesse auf sich. Doch nur wer laut ist, hat nicht unbedingt mehr zu sagen.
Jeder Mensch macht einzigartige Erfahrungen, die von anderen so nicht wiederholt werden können, weil jedes Leben einzigartig ist. Uns alle verbindet die menschliche Erfahrung, auf dieser Erde zu leben – mit allen Höhen und Tiefen. Und auch wenn die Erfahrungen für jeden individuell sind, sind sie aus meiner Sicht universell, weil wir alle Gefühle von Zorn, Trauer, Verlust, Angst, Ohnmacht, Freude und Glück kennen.
Von diesen Erfahrungen anderer zu lesen oder zu hören, kann einen Spiegeleffekt auf das eigene (Er-)Leben) haben: Wir sehen, dass wir nicht alleine mit unseren Gefühlen sind. Wir sehen, dass andere Ähnliches erlebt und überwunden haben. Manchmal erkennen wir uns in den Erfahrungen anderer und können eigene blinde Flecken sehen.
Das alles ist unabhängig davon, wie bekannt ein Mensch ist. Das Interesse an Lebensgeschichten ist groß. Schon vor 20 Jahren wurde von einem regelrechten Autobiografie-Boom berichtet – in der Literatur wie in der Forschung. Auf dem Büchermarkt gibt es immer mehr autofiktionale Werke und selbst im Bereich der Sachbücher und Ratgeber gibt es seit Jahren den Trend, dass sie autobiografisch erzählt werden.
Vor vielen Jahren gab es eine Phase, in der ich sehr gerne das Nachtcafé auf SWR geschaut habe, damals noch moderiert von Wieland Backes. Hier erzählen Menschen – auch jenseits von Prominenz – ihre Geschichten. Immer wieder bewegend.
Irrtum Nr. 2: Ich muss auf ein bewegtes Leben blicken
In deinem Leben müssen sich keine Schicksalsschläge und Katastrophen ereignet haben, um über dein Leben schreiben zu können. Dennoch kannst du dir sicher sein, dass es in jedem Leben – egal wie es nach außen wirkt – schwere Zeiten gegeben hat.
Natürlich lassen sich Biografien kaum miteinander vergleichen – vor allem nicht unter dem Aspekt, wer mehr erlebt hat. Doch es zeigt sich, dass jeder Mensch im Verlauf auf seine individuellen Höhen und Tiefen blickt, ausgelöst durch Verluste oder Veränderungen. Meist sind dies Chancen, gestärkt aus Krisen hervorzugehen. Denn – und das ist wie ein Naturgesetz – nach jedem Tief kommt wieder ein Hoch.
Ein Leben kann nicht (nur) von außen beurteilt werden. Bewegung findet auch im Inneren statt. Alles, was dich bewegt und geprägt hat, ist erzählenswert. In manchen Leben geht es nicht unbedingt darum, was alles passiert ist, sondern auch darum, was nicht passiert ist.
Es sind die leisen Töne und Einsichten, scheinbar Alltägliches, die bewegen. Und genauso wie es inhaltlich keine Einschränkungen gibt, gibt es kein bestimmtes Alter. Du kannst in jedem Alter über dein Leben schreiben und brauchst nicht zu warten, bis du ein hohes Alter erreicht hast. Dein Leben ist bereits jetzt reich und bewegt.
Wenn du die Geschichten deines Lebens noch nicht erkennst, dann kann das biografische Schreiben helfen, diese Geschichten zu entdecken und zu würdigen.
Irrtum Nr. 3: Wenn ich schon schreibe, dann eine Biografie
Eine (Auto-)Biografie ist ein großes Vorhaben. Statt eines ganzen Lebens kannst du dich zunächst Episoden aus deinem Leben widmen, die lose oder thematisch miteinander verbunden sind. Genauso gut kannst du dir eine Zeitspanne oder Lebensphase herausgreifen, etwa ein Sommer, ein bestimmtes Schuljahr oder eine Beziehung.
Wenn dir der Begriff der Biografie sehr groß erscheint, verkleinere ihn durch Erinnerungen. Ein Leben setzt sich aus vielen Erinnerungen zusammen. Die (Auto-)Biografie ist das Panorama und die Erinnerung ein Bildausschnitt davon. Judith Barrington hat es so beschrieben:
Eine andere Idee ist, mit dem Begriff der Skizzen zu arbeiten: (auto-)biografische Skizzen oder Skizzen aus deinem Leben. Das nimmt den Druck und vermittelt eine gewisse Vorläufigkeit, einen Entwurfscharakter, wenn du beginnst, dich deinem Leben schreibend anzunähern. Das befreit dich außerdem davon, alles chronologisch aufzuschreiben. Bei Episoden, Skizzen oder Erinnerungen kannst du dort anfangen, wohin es dich am meisten zieht (mehr dazu unter Irrtum Nummer 7).
Irrtum Nr. 4: Es muss professionell geschrieben sein
Hier kommt es darauf an: Was hast du mit deinen Texten vor? Und was bedeutet überhaupt professionell für dich? Meist stecken dahinter hohe eigene Ansprüche. Wer glaubt, nicht gut genug zu schreiben, fängt vielleicht nie damit an.
Erlaube dir, erst einmal Skizzen und Entwürfe zu schreiben. Erlaube dir, den Schreibprozess vom Überarbeiten zu trennen. Erlaube dir außerdem, mit der Zeit und Erfahrung deine Botschaft und deine Schreibstimme zu entwickeln. Erlaube dir, deine Erfahrungen und Gefühle in deinen Worten auszudrücken.
Wenn du von vornherein an ein öffentliches Publikum für deine Texte denkst, dann gibt es selbstverständlich Erwartungen an die Qualität. Und je nach Genre gelten wiederum andere Erwartungen und Regeln.
Fang also da an, wo du gerade bist und entwickle dich von Text zu Text weiter.
Irrtum Nr. 5: Ich brauche viel Zeit zum Schreiben
Das kommt ganz darauf an, was du vorhast. Das Schreiben ist das eine – die Überarbeitung der Texte, eine Struktur und den roten Faden zu finden, das andere.
Wenn du dir Erinnerungen, Episoden und Skizzen vornimmst, kannst du auch in kurzen Phasen schreiben und vorankommen. Dazwischen wird und darf es immer wieder Zeiten geben, in denen die Texte ruhen und in denen das Leben dazwischen kommt. Regelmäßigkeit ist der Schlüssel.
Irrtum Nr. 6: Ich muss es veröffentlichen
Schreib in erster Linie für dich und entscheide dann, was du in welcher Form preisgeben möchtest. Und bitte denke nicht, dass dein Text nur dann wertvoll ist, wenn er öffentlich ist. Oder dass sich das Schreiben nur dann lohnt, wenn du eine Veröffentlichung planst.
Biografisches Schreiben kann auch als persönlicher Prozess wertvoll sein, der dabei hilft, dich mit deiner Biografie auseinanderzusetzen und dich mit Erlebnissen auszusöhnen, die dich noch beschäftigen oder belasten. Das passiert unabhängig davon, ob jemand anderes die Texte liest. Und vielleicht, wenn du diesen Prozess durchlaufen hast, kann es passieren, dass du deine Texte nicht mehr veröffentlichen brauchst, weil sie ihren Zweck bereits durch das Schreiben erfüllt haben.
Hinter einer Veröffentlichung steht ein anderer Anspruch an den Text (von dir und seitens der Lesenden). Und gleichzeitig erfüllt ein Leserkreis den Wunsch, gelesen und gehört zu werden.
Veröffentlichen ist nur eine Option und kein Muss. Und selbst dann gibt es viele Varianten: Möchtest du ein paar Exemplare für den Familienkreis drucken lassen? Hast du Lust, einen Blog über dein Leben zu starten? Möchtest du einen Beitrag zu einer Chronik deines Ortes beitragen? Denkst du an ein Buch in Zusammenarbeit mit einem Verlag oder möchtest du es in Eigenregie als Selfpublisher veröffentlichen? Vielleicht hast du Lust, einen Leseabend zu gestalten oder den Text einmal in einem kleinen oder größeren Rahmen vorzulesen?
Irrtum Nr. 7: Biografisches Schreiben ist schmerzhaft
Während des Schreibens erinnerst du dich und arbeitest dich gleichzeitig durch die Erinnerungen und Erlebnisse durch. Das kann natürlich (alte) Gefühle wecken und aufwühlend sein.
Ich empfehle daher, dich behutsam an das Schreiben über bestimmte Lebensphasen heranzutasten. Bereite dich auf deinen Schreibprozess vor und stell dich nur den Themen, für die du aktuell bereit bist. Dein Körper wird dir mitteilen, wie viel er gerade halten kann.
Beim biografischen Schreiben geht es nicht darum (wieder und wieder) in alten Geschichten herumzuwühlen. Es geht darum, Worte für deine Erfahrungen zu finden – die schönen, die schwierigen und alles dazwischen und zu beginnen, diese neu für dich zu sortieren und bewerten. (Biografisches) Schreiben kann therapeutisch und heilsam wirken. Doch bei allen Ambitionen: Achte bitte gut auf dich und schreibe dich nicht in Themen hinein, deren Zeit noch nicht gekommen ist.
In meinen Schreibkursen balanciere ich daher Schreibimpulse, die eine öffnende oder eine geschlossene Wirkung haben, miteinander aus. Begrenzungen im Thema, der Dauer des Schreibens und in der Form können dabei helfen, dich nicht im Schreiben zu verlieren.
Deine nächsten Schritte
Ich wünsche mir, dass dir dieser Artikel Klarheit geschenkt hat, was es bedeuten kann, über das eigene Leben zu schreiben und dich ermutigt, entgegen dieser Irrtümer weiterzuschreiben – oder mit dem biografischen Schreiben zu beginnen.
Denn nur du kannst deine Geschichte erzählen und dabei diesen besonderen Prozess erleben.
Wenn du dir Unterstützung oder eine Anleitung wünschst, um deine biografische Schreibreise zu starten, lade ich dich zu den Autor:innen des Lebens ein. In dieser Online-Schreibwerkstatt findest du Anregungen, die dich durch deine Biografie und den Schreibprozess führen, und Gleichgesinnte, mit denen du (Schreib-)Erfahrungen und Texte teilen kannst.