Visuelles Schreiben – Wie Bilder zum Schreiben inspirieren

Visuelles Schreiben – Wie Bilder zum Schreiben inspirieren

Visuelle Eindrücke sind eine wunderbare Grundlage, um mit dem Schreiben zu beginnen oder auf neue Ideen für Texte zu kommen. Gemälde und Kunstwerke setzen Assoziationen in uns frei, die inspirieren. Wie diese Art der Inspiration funktioniert, wie du sie für deine Texte nutzen kannst und wo du passendes Bildmaterial findest, liest du hier.

Inspiration beginnt mit der Beobachtung

Es ist gar nicht so leicht, mit wirklich offenen Augen, Ohren und Sinnen durch die Straßen zu laufen. Da die Menge an Informationen, die unsere Gehirne verarbeiten können, begrenzt ist, kommen bei uns oft nur gefilterte Reize an. Alles andere blendet unser Gehirn aus. Was uns im Alltag hilft und davor schützt, von Reizen überflutet zu werden, hindert uns inspiriert zu werden (vgl. Döring/Mittelstraß, 2017). Der „inspirierende Blick“, so wie Döring/Mittelstraß ihn nennen, ist nötig, um neuen Input zu empfangen.
Inspiration findet statt, wenn frische Impulse von außen auf bereits vorhandene Gedächtnisinhalte treffen. (aus: Döring/Mittelstraß, 2017)
 Das bewusste Konzentrieren auf ein Bild, seine Komposition und seine Details ist etwas, was wir im Alltag kaum tun. Wir scrollen, skimmen und überfliegen. “Wer Inspiration sucht, sollte lernen, die Aufmerksamkeit zu lenken und den Blick zu schärfen für das, was auf den ersten Blick verborgen ist. Nur was wir bewusst erfahren, können wir später einbeziehen in unsere Ideen, Pläne und Vorstellungen.“ (Döring/Mittelstraß, 2017)

Bild betrachten und wirken lassen

Wenn du dich ganz auf ein Bild konzentrierst, können diese Fragen dich dabei leiten:
  • was lenkt deinen Blick, wie schauen dich die Augenpaare an, was löst das in dir aus?
  • in welcher Konstellation könnten die Figuren zueinander oder zu ihrer Umgebung stehen?
  • welche Stimmung oder welcher Eindruck dominiert?
  • welche Fragen wirft das Bild auf?
  • welche Details findest du spannend: etwas in der Landschaft, eine Hintergrundfigur, eine Form oder Farbe?
Neben dem Blick von außen, den du auf das Bild wirfst, richtest du ihn gleichzeitig nach innen: Was passiert mit dir währenddessen, welche Assoziationen weckt das Bild? Es ist wahrscheinlich, dass du ein Thema, das dich gerade beschäftigt, in diesem Bild siehst oder es mit hinein trägst.

Wie Bilder deine Texte inspirieren

Um vom Bild zum Text zu gelangen, solltest du zunächst deine Eindrücke notieren. Dabei beginnst du, indem du sie in ein Wort oder einen Satz fasst. Dieser kann ein Ausgangspunkt für ein Cluster sein. Auf diese Weise wechseln sich bildliches und begriffliches Denken optimal ab und helfen dabei, deine Eindrücke in Worte zu kleiden. Oftmals zeichnet sich währenddessen bereits eine Richtung für den Text ab, den du anschließend über die Freewriting-Methode aufschreibst. (vgl. Rico, 1984: Kapitel 5).

Das Bild hilft dabei…
  • ein Thema für eine Geschichte oder Miniatur finden
  • zu einer Szene zu führen, die über sich hinausweist
  • deinen Schreibstil zu beeinflussen, je nach Malstil
  • Assoziationen zu wecken, Erinnerungen hervorzurufen
  • Figuren hervorzubringen
  • Landschaften oder Menschen zu beschreiben

Wo findest du Bilder für deine Texte?

Neben dem Gang ins Museum und in Kunstausstellungen lassen sich eine Vielzahl an Bildern und Gemälden online betrachten

Malerei, Porträts, Bildende Kunst
Google Arts & Culture umfasst Beiträge über Künstler, ihre Gemälde und Skulpturen. Aus der Kooperation mit 1.200 Museen, Galerien und Instituten aus 70 Ländern heraus bietet Google Arts & Culture Zugriff auf deren Ausstellungen. Es lassen sich unter anderem Bilder betrachten und nach Ausstellungen und Veranstaltungen in der Nähe suchen. Besonders hilfreich kann die Sortierung nach Kunstrichtung sein, um Serientexte zu erstellen oder den Schreibstil an einen bestimmten Malstil anzupassen. Auch als App im Google Playstore erhältlich.

Per App: DailyArt
Täglich Kunst und Inspiration auf dem Smartphone gibt es mit der App DailyArt. Jeden Tag um 18 Uhr kommt per Push-Nachricht ein neues Gemälde mit einem kurzen Text über den Künstler und die Entstehungsgeschichte des Werks. Die Bilder sind neben der App für Android und iOS auch online verfügbar.

Fotografien
In der Foto-Community flickr finden sich Fotografien, hochgeladen von professionellen und Hobbyfotografen. Auf der Suche nach Inspiration für Figuren ist der Bereich Porträts spannend.

Visual Writing Prompts
Visual Writing Prompts sind Schreibanregungen, denen ein Bild zugrunde liegt. Diese sind im englischsprachigen Raum weitaus verbreiteter als bei uns. Nicht alle Anregungen sind interessant oder wirklich inspirierend, auf thecreative.cafe befindet sich eine Auswahl, um einen Eindruck von der Art der Übungen zu erhalten.

Video
Videos und bewegte Bilder, wie zum Beispiel bei vimeo transportieren Stimmung und öffnen den Blick für Raum und Weite. Videos von Landschafts- und Reiseaufnahmen sind ideal, wenn du auf der Suche nach Schauplätzen bist und ein Gefühl für den Ort bekommen möchtest. Bei Kurzfilmen besteht die Gefahr, 1:1 das Drehbuch zur Szene zu Schreiben. Um diese Art von Film produktiv als Ideengeber zu nutzen, solltest du interessante Fragestellung daraus aufgreifen oder die Leerstellen, die in Szene mitschwingen. Du könntest weg vom Sichtbaren das Innenleben und die Gedanken einer Person in Text fassen, oft werden diese nicht explizit, sondern durch Handlung oder Atmosphäre ausgedrückt. Vielleicht regt dich ein Kurzfilm dazu an, nicht gezeigte Szenen zu schreiben, die Idee des Plots oder der Prämisse aufzugreifen.

Beispiele und Inspiration zum Üben

Auf meinem Pinterest Board Schreiben zu Kunst sammle ich Gemälde, die inspirieren und zum Schreiben anregen, so zum Beispiel: Edvard Munch: Zwei Menschen, die Einsamen

Edvard Munch - Die Einsamen

Dieses Bild erzählt mir eine Geschichte. Ist er ihr nachgelaufen, gab es einen Streit? Hat sie vielleicht nicht bemerkt, dass er ihr gefolgt ist und hinter ihr steht? Zaudernd und mit sich ringend, ob er etwas sagen, sie ansprechen soll? Die Steine und der Sand unter seinen Schuhsohlen würden jede seiner weiteren Bewegungen verraten. Doch vielleicht ist die Brandung der Wellen so laut, dass sie ihn nicht hören wird? Sie würde nur seine Hand auf der Schulter bemerken…

Wie du merkst, bin ich schon mitten in einer Szene, deren nähere Bedeutung und Ausgang ich selbst nicht kenne, aber der ich mich schreibend genähert habe. Fasst er sie an die Schulter? Wie reagiert sie darauf? Wie sieht es aus ihrer Perspektive aus? Er wiederum sieht ihren Rücken und ein Erzähler oder Beobachter aus der Ferne sieht die beiden. Wie wirkt die Szene auf ihn?

Inspirieren auch dich Bilder zum Schreiben?

Was fällt dir zu den Bildern ein? Berichte mir gerne von deinen Erfahrungen!

Schreiben zu Kunst

Quellen und weiterführende Literatur

Döring, Iris; Mittelstraß, Bettina (2017): Inspiration: Wie Gedanken in den Kopf kommen und daraus Ideen entstehen. Reinbek: Rowohlt.

Rico, Gabriele (1984): Garantiert schreiben lernen. Reinbek: Rowohlt.

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Der ideale Schreibtag – Tipps für klare Strukturen im Schreiballtag

Der ideale Schreibtag – Tipps für klare Strukturen im Schreiballtag

Es hat eine Weile gebraucht, bis ich verstanden habe, wie wichtig Routinen und Regelmäßigkeit beim Schreiben sind. Geschrieben habe ich, wenn ich Lust dazu hatte und so gab es immer wieder Tage, die ich mal schreibend, mal nicht-schreibend verbracht habe. Ich kam nicht nur langsam voran, es stapelten sich viele angefangene Schreibprojekte und nur wenige kamen über den Entwurf und etliche Korrekturversionen hinaus. Damit es auch dir gelingt, deinen Schreibtag besser zu strukturieren, skizziere ich den Ablauf einer Schreibsequenz vom Einstimmen bis zum Ende kommen, die zu deiner täglichen Routine werden kann.

Mit der kleinsten Einheit gegen Widerstände und Blockaden

In der kleinstmöglichen Einheit liegt der Schlüssel, um ins Tun zu kommen. Die Idee ist angelehnt an Barbara Shers Ausführungen in Lebe das Leben, von dem du träumst. Als Coach und Karriereberaterin ist eine ihrer Strategien gegen innere Widerstände die „kleinste zumutbare Aktionseinheit“. Wenn du heute nicht schreiben kannst oder willst, dann probiere etwas von meiner folgenden Liste aus und belasse es dabei. Wiederhole es morgen und am nächsten Tag. So lange, bis du von selbst schreiben willst.

Ideen für kleine Einheiten, anstelle des Schreibens, um uns Schreiben zu kommen:

  • Notizbuch öffnen und Stift bereit legen
  • Geschriebenes vom Vortag lesen und Anmerkungen an den Rand schreiben
  • einen anderen Text von dir laut vorlesen
  • Einfälle zum geplanten Text notieren
  • den Tag Revue passieren lassen: Eindrücke notieren, Momente skizzieren
  • einen einzigen Satz oder Vers schreiben

Einstimmen ins Schreiben

Warum solltest du dich überhaupt einstimmen? Sicher kennst du das Gefühl, dass du gedanklich noch nicht bei der Sache bist, dass du am Schreibtisch sitzt, deine Gedanken aber abschweifen, dein Geist deinem Körper noch nicht hinterher gekommen ist. Beim Reisen ist es ähnlich: Der Geist reist langsam, er reist dem Körper hinterher, der schon längst in der nächsten Stadt angekommen ist.

Gib dir selbst das Signal, dass du nun bereit für das Schreiben bist, indem du deine Playlist startest. Gibt es vielleicht ein Lied, mit dem du immer wieder das Schreiben eröffnen möchtest? Einen Kurzgeschichtenband, in dem du bei jedem Mal eine neue Geschichte liest oder ein Gedicht aus einem Lyrikband liest?

Schreibeinstimmer können sein:

  • Musik hören
  • Gedicht, Songtext, Haiku oder Kurzgeschichte lesen
  • Bild betrachten
  • Text abschreiben
  • von einem Zitat anregen lassen

Beginne mit dem Warmschreiben

Aufwärmen oder warm schreiben, das klingt nach Sport, doch nichts anderes sind Fingerübungen für das tägliche Schreiben. Leg auf das Ergebnis keinen allzu großen Wert. Es ist der Entwurf vor dem Entwurf. Was hier entsteht, kann eine spätere Quelle für dich sein, eine Stoffsammlung oder auch ein fließender Übergang zu deinem Schreibprojekt – oder nichts von alledem.
Die Übung kann frei oder geführt sein, je nachdem, ob du nach einem selbst gewählten Thema oder assoziativ schreibst, oder indem du Vorgaben folgst.

So kannst du dich warm schreiben:

  • Schreibübung / Writing prompt
  • Journal schreiben
  • Freewriting
  • eine fortlaufende freie Übung, falls du z. B. eine Übungsfigur hast, dann schreibe kleine Episoden aus ihrer Perspektive

Struktur und Schreibziel festlegen

Leg dir für deine Schreibeinheit ein Ziel fest, das du erreichen möchtest. Das könnte sein: einen Entwurf schreiben, einen Absatz schreiben, 30 Minuten schreiben, 2 Seiten oder 1.000 Wörter. Dein Ziel sollte messbar sein, denn dadurch stellt sich der Erfolg schneller ein.

Schreiben und die Worte fließen lassen

In dieser Phase geht es nur um dich und das Schreiben. Um nichts anderes. Du konzentrierst dich voll aufs Tippen oder den Stift. Schreiben ohne löschen, ohne durchstreichen, ohne abzusetzen im besten Fall. Diese Phase ist von allen anderen im Schreibprozess zu trennen.

Du solltest nicht korrigieren, während du schreibst, denn dann unterbrichst du den Fluss. Du solltest auch nicht immer wieder zu einem Satz zurückkehren und umformulieren. Arbeite stattdessen mit Markierungen, wie einem * hinter dem Wort, wenn du dich in einer anderen Schreibphasen um eine treffendere Formulierung kümmern möchtest. Folge dem Fluss deiner Gedanken und schreibe weiter.

Du wirst sehen: Nur wenn etwas da ist, kannst du weiter damit arbeiten, es später verbessern und weiterentwickeln. So lange das Blatt leer bleibt, hast du nichts, mit dem du arbeiten kannst. Und wichtig: Chronologisch muss es gar nicht sein. Fang in der Mitte an oder spring zu einem anderen Teil – eben immer dahin, wohin der Stift dich verschlägt.

Der Wiedereinstieg nach Pausen

Pausen sind während des Schreibens wichtig und richtig. Es liegt nahe, dass du nach der Pause dein Geschriebenes wieder durchliest. Doch das versetzt dich möglicherweise in die “Korrekturphase” statt in die Schreibphase. Überprüfe daher, ob du in der Stimmung bist, um da weiterzuschreiben, wo du zuvor aufgehört hast. Vielleicht brauchst du nur einen kleinen Anstoß durch einen Impuls von außen (starte beim Einstimmen und Warmschreiben) oder du bleibst in der Korrekturphase bleiben oder wendest dich einem anderen Schreibprojekt zu, das sich vielleicht sogar in einer anderen Schreibphase befindet.

Das Schreiben beenden

Ernest Hemingway hat seinen Schreibtag mit einem Trick beendet: Indem er mitten im Satz aufhörte zu schreiben, wenn er genau wusste, wie es weiter ging. Das hat den Vorteil, dass du diese Energie mit in den nächsten Tag nimmst. Du weißt also genau, womit du starten wirst.

Den nächsten Schreibtag planen

In Ratgebern zum Zeitmanagement findet sich häufig der Tipp, am Ende des Tages den nächsten vorzubereiten. Das funktioniert über eine Liste, die du dir am Abend schreibst und Aufgaben für den neuen Tag überlegst. Neben dem Ziel, eine bestimmte Szene zu schreiben, können es auch Fragestellungen sein, denen du auf der Spur bist, z. B. was es braucht, um eine bestimmte Szene sinnlicher zu gestalten.

Brian Tracy schreibt in Eat the Frog davon, wie wichtig diese Vorbereitung ist, damit das Unterbewusstsein an diesen Aufgaben in der Zwischenzeit weiterarbeitet und beim Lösen von Problemen oder Fragestellungen hilft. In seinem Buch stellt Tracy ein Sammlungs- und Ordnungsprinzip für alle anfallenden Aufgaben an: Es sind Listen. Alle geplanten Aufgaben und ToDos werden in der Hauptliste gesammelt und wandern dann in die Monats-, Wochen- oder Tagesliste. In Online-Projektmanagementtools wie Trello oder Asana lassen sich als Aufgabenkärtchen anlegen und hin- und herschieben. Sie wandern von einer Liste zur nächsten und so kannst du dir für den nächsten Tag deine drei wichtigsten ToDos von der Wochen- in die Tagesliste schieben.

Schreibtag beendet – sei stolz!

Egal wie du deinen Schreibtag gestaltet hast, sei stolz. Sei stolz, wenn du eine Postkarte betrachtest und einige Zeilen geschrieben hast, wenn du zu laufender Musik geschrieben hast, wenn sich dein Notizbuch gefüllt hat, wenn dein Handgelenk vom schnellen Schreiben etwas schmerzt, wenn du mehr Ideen hast, als du aufschreiben kannst. Und auch, wenn du heute einen kleinen Schritt getan hast, über deinen Texten hängengeblieben bist und sie immer wieder durchgelesen hast. Bleib dran und mit jedem Mal mit dem du das Schreiben beginnst, wird die Verbindung stärker und das Schreiben selbstverständlicher.

Wie sieht dein Schreibtag aus?

Ich bin gespannt, welche Schreibroutinen du dir aufgebaut hast und freue mich, davon in den Kommentaren zu lesen!

Quellen und weiterführende Literatur
Sher, Barbara (2008): Lebe das Leben, von dem du träumst. München: dtv.
Tracy, Brian (2010): Eat that frog. 21 Wege, um sein Zaudern zu überwinden. Offenbach: GABAL.

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Die Schatten, die das Feuilleton warf: Judith Hermanns Weg zum ersten Roman

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Eine junge Frau wie aus der Zeit gefallen: Sie sitzt auf einem Stuhl in der Zimmerecke, das Licht fällt durch die Fenster hinter ihr, die Haare sind locker zusammengeknotet, sie trägt einen Pelzkragen, der an russische Winter denken lässt, ihre Mimik mutet madonnenhaft an – ein Blick voll Sehnsucht und Melancholie.

Alles begann mit jenem Autorenfoto Judith Hermanns, über das die Kritiker mindestens genauso viel geschrieben haben wie über ihr Debüt Sommerhaus, später (1998). Die Fotografin des Bildes ist Renate von Mangoldt. „Allgemein wird gesagt, dass das Foto von Judith Hermann mein bestes sei: Es war ein heller Wintermorgen und Hermann kam, so schön wie sie war: Sie trug ein Winterkleid mit Pelzbesatz, das Licht umgab sie mit einer Aura.“ Jene unbestimmte, einnehmende, melancholische Aura, die gleichermaßen von ihren Kurzgeschichten ausgeht.

So startete Judith Hermann ihre Karriere als Schriftstellerin; bis dahin war sie eine unbekannte Berlinerin von 28 Jahren. Sommerhaus, später, ein Band mit neun Kurzgeschichten, wurde gefeiert, die Kritiker sagten ihr eine großartige Zukunft voraus. Etiketten wurden ihr dabei vielfach von Feuilletonisten aufgedrückt: Berlin-Literatur, literarisches Fräuleinwunder, der Sound einer neuen Generation, Ikone der Popkultur.

Vieles davon lässt sich aus heutiger Sicht zurückweisen: Selbst das Fräuleinwunder wurde 2004 relativiert. Dazu zählten junge deutschsprachige Debütantinnen der Jahrhundertwende wie Karen Duve, Tanja Dückers, Alexa Hennig von Lange und Zoë Jenny, die in ihren Texten das Lebensgefühl ihrer Zeit einfingen. „In der ‚Süddeutschen‘ las ich, dass man jetzt dahinter käme, dass die Autorinnen des sogenannten deutschen Fräuleinwunders im Grunde genommen gar nichts zu erzählen gehabt hätten“, erklärt Hermann. „Es würde in all diesen Texten um immer dasselbe gehen, Beziehungsprobleme nämlich, und um sonst nichts.“

Fünf Jahre nach dem Debüt meldete sich Hermann mit Nichts als Gespenster (2003) zurück: Die Kurzgeschichte wurden länger, näherten sich mehr und mehr der Erzählung an und ihre Figuren entwickelten sich weiter – sie reisten, verließen Berlin. Der Ton ihrer Geschichten blieb derselbe, doch die Kritik blieb verhalten. Ihre neuen Geschichten seien naiv und trivial – es fehle an „Geschichte und Politik und Berufsleben und Arbeitswelt, Agenten der Sozialisation, Autoritäten, Vorgesetzte, überhaupt ‚Erwachsene‘“, so Kritikerin Alexandra Pontzen.

Sechs weitere Jahre ließ sie sich Zeit, bis der Band Alice (2009) erschien – fünf Geschichten vom Sterben und dem, was bleibt, wenn man geht. Gemeinsam haben sie Alice, die in allen Geschichten auftritt und in irgendeiner Beziehung zu den Verstorbenen steht, der Fokus liegt auf den Hinterbliebenen, den Überlebenden. Die Kritik fiel positiver als beim Vorgänger aus; die Stilsicherheit habe sie beibehalten. Andere bemängelten dagegen ihren Protokollstil, dessen Angestrengtheit und Künstlichkeit.

Judith Hermanns im Jahr 2014: Am 14. August erschien ihr erster Roman Aller Liebe Anfang / © Andreas Labes

„Vielleicht ist Alice meine eigene Antwort auf Sommerhaus, später“, sagt Hermann, „Ich kann mich fragen, was ich dann im vierten Buch schreiben werde. Und vielleicht ist mit Alice auch etwas abgeschlossen.“ Was sich wie ein Versprechen für eine andere literarische Form liest, wurde inzwischen eingelöst: Der Debüt-Roman Aller Liebe Anfang erschien im August 2014 und behandelt eine zwischenmenschliche Grenzsituation, das Stalking, die zur Bedrohung für das Ehe- und Familienleben der Hauptfigur Stella wird. Die Kritikerstimmen polarisierten erneut, was jedoch alle erwähnten, ist Hermanns konsequenter Stil aus Beobachtung, Lakonie und dem Unausgesprochenen – ob er nun gefällt, oder nicht.

Was sie auch sagen: Hermann hat sich losgeschrieben, von den Kurzgeschichten, dem Literaturbetrieb und der Erwartungshaltung. Fräulein Hermann hat es geschafft, sich von den Etiketten zu befreien und aus dem Schatten von damals hervorzutreten: Frau Hermann zeigt sich auf ihrem aktuellen Autorenfoto standhaft, lächelnd, zufrieden – 16 Jahre älter als damals, mit dem Blick nicht in ein Später gerichtet, sondern in ein Jetzt.

12 Impulse für deinen achtsamen Jahreswechsel
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