Mit dem Schreiben anzufangen und wieder aufzuhören ist einfacher als dranzubleiben. Das hast du sicher schon erlebt, vermutlich mehr als einmal. Sind gute Gewohnheiten noch nicht fest im Alltag verankert, gehen wir wieder in alten Mustern baden, sobald es windig und hektisch wird.
Dabei ist gerade der Halt guter Gewohnheiten in stürmischen Zeiten so wichtig. Das Schreiben, egal ob Morgenseiten, das Journal oder Tagebuch, zähle ich zu den guten Gewohnheiten. Zum Aufbau solcher Gewohnheiten oder Journaling-Routinen wurde schon viel geschrieben.
Ich möchte ein paar Gedanken zu Schreib- bzw. Journaling-Routinen mit dir teilen, die weniger das sollte und dafür mehr das wollen in den Blick nehmen. Wenn du magst, beantworte die folgenden Fragen in deinem Journal, um dich den Antworten nach deiner Routine schreibend anzunähern.
1. Was steckt hinter deinem Wunsch, regelmäßig zu schreiben?
Die Frage nach deinem Warum ist grundlegend für alles, was du anfangen oder etablieren möchtest. Hinter dem Warum verbirgt sich deine Motivation. Gründe, um regelmäßig oder täglich zu schreiben, können sein:
das Flow-Gefühl während des Schreibens zu spüren,
deinen kreativen Output zu erhöhen,
regelmäßige Auszeiten nur für dich zu nehmen,
in Kontakt mit dir und deiner inneren Stimme zu kommen,
den Kopf aufzuräumen,
Klarheit zu gewinnen,
Erkenntnisse zu sammeln
Erinnerungen festzuhalten.
Beschreibe das Gefühl, das dir das Schreiben gibt, und erinnere dich im Alltag daran, wenn du zwischen Schreiben und Aufschieben schwankst.
2. Was funktioniert für dich – und was nicht?
Bei dieser Frage darfst du ganz ehrlich auf deinen Alltag und deine Bedürfnisse schauen. Schließe Frieden mit dem sollte und lass los, was nicht für dich funktioniert. Muss es wirklich täglich sein? Muss es unbedingt morgens sein, nur weil es für viele andere funktioniert?
Schau dir stattdessen an:
Welchen Tages- und Wochenrhythmus hast du?
Wann hast du freie Zeiten in deinem Kalender und wie füllst du sie normalerweise?
Zu welcher Tageszeit schreibst du am liebsten?
Wie viel Zeit möchtest du dir fürs Schreiben nehmen? Und ist das realistisch?
Brauchts du feste Termine oder flexibel verschiebbare Zeitblöcke für das Schreiben?
Welche sind deine Lieblingsübungen, -methoden, oder -Journalingfragen?
Brauchst du Ruhe oder Musik beim Schreiben?
Darf es bequem auf dem Sofa, in einem Sessel, im Bett oder konzentriert am Schreibtisch sein?
3. Welchen Anker kannst du dir im Alltag setzen?
Damit das Schreiben zu einem festen Bestandteil deines Alltags wird, braucht es einen Anker. Diesen kannst du setzen, indem du das Schreiben an eine Gewohnheit koppelst, die du ohnehin schon tust, wie die Tasse Kaffee am Morgen zu trinken, nachdem du vom Spaziergang wieder zur Tür hereinkommst, nach dem Zähneputzen… Mach es dir leicht und lege das Journal zusammen mit einem Stift bereit noch bevor du mit dem Schreiben startest. Immer, wenn dein Blick auf dein Journal fällt, erinnert es dich an deine Schreibroutine.
Auch ein kleiner Anfang ist ein Anfang
Bis ich eine feste Journaling-Routine etabliert habe, bin ich zwischen langen Phasen des Schreibens und Nicht-Schreibens hin- und hergependelt. Ruhe hat One Line A Day reingebracht. Es ist ein handliches Notizbuch, das für jeden Tag des Jahres fünf schmale Zeilen bereithält und das für fünf Jahre. Komplett ausgefüllt, sehe ich auf einer Seite einen Tag, wie ich ihn an fünf verschiedenen Jahren erlebt habe. Jeden Tag ein paar kurze Sätze – das geht leicht von der Hand und ist zu einem festen Gute-Nacht-Ritual für mich geworden.
Ich bin inzwischen bei meinem zweiten One-Line-A-Day-Buch angekommen und es ist ein schöner Gedanke, meinen Alltag über so viele Jahre (fast) lückenlos zu dokumentieren und fünf Jahres eines ganzen Lebens in meiner Hand zu halten.
Der Nebeneffekt: Meine Phasen der Nicht-Schreibens sind kürzer geworden und ich schreibe spätestens jeden zweiten Tag zusätzlich Morgen– oder Abendseiten. Ich habe mich also nicht auf eine Tageszeit festgelegt, sondern entscheide am Tag, wonach mir ist.
Hast du eine feste Schreibroutine? Falls ja: Was hilft dir dabei, sie einzuhalten?
Kennst du auch die Menschen, die lieber Nachrichten schreiben anstatt anzurufen? Die erst eine kurze Denkpause einlegen, bevor sie sprechen? Ich gehöre zu ihnen und kam erst vor wenigen Jahren dahinter, warum das so ist: Ich bin ein leiser Mensch – ich bin introvertiert.
Mit dem Schreiben habe ich mir zuerst intuitiv und dann ganz bewusst Inseln, Rückzugsorte und ein Denkwerkzeug geschaffen. Schreiben ist mein Weg, um in unserer lauten Welt zu bestehen. Und es ist kein Zufall, warum sich Introvertierte gerne schriftlich ausdrücken und unter ihnen einige Schriftsteller zu finden sind.
Was ist Introversion?
Introversion ist nur ein Ende einer Skala auf deren gegenüberliegenden Seite die Extraversion steht. Wir können im Laufe unseres Lebens und in unterschiedlichen Situationen verschiedene Positionen auf dieser Skala einnehmen. Wir alle kennen Bereiche, in denen wir uns extrovertiert oder introvertiert verhalten. Meist überwiegt die Neigung in eine Richtung. Wer beides zu gleichen Teilen in sich vereint, ist ambivertiert. Geschätzte 30-50 Prozent der Menschen weltweit sind introvertiert.
Die Begriffe introvertiert – nach innen gewandt und extrovertiert – nach außen gewandt gehen auf den Psychologen C. G. Jung zurück. Das wichtigste Merkmal der Persönlichkeitstypen ist, woher sie ihre Energie beziehen. Introvertierte neigen dazu, sich erschöpft zu fühlen, wenn sie viele Eindrücke zu verarbeiten und viele Menschen um sich herum haben. Um neue Kraft zu schöpfen, ziehen sie sich zurück und verbringen zum Beispiel einen ruhigen Abend mit einem Buch. Extrovertierte hingegen blühen in Gesellschaft auf und umgeben sich gerne mit vielen Menschen – daraus ziehen sie ihre Energie.
Ob wir eher intro- oder extrovertiert sind, ist eine Persönlichkeitsfrage und damit zu einem Teil Veranlagung. Introversion zeigt sich beispielsweise in der Ausstattung unseres Nervensystems. Sylvia Löhken, Expertin für introvertierte Menschen, erklärt es in ihrem Buch „Leise Menschen – gutes Leben“ wie folgt: „Intros haben ganz wörtlich ‚längere Leitungen‘ in ihren Hirnen, weswegen die Reize längere Strecken zurücklegen.“ Das heißt, wir verarbeiten Eindrücke langsamer und brauchen mehr Zeit zum Nachdenken.
Was es heißt, introvertiert zu sein
Freunde und Familie haben mich schon immer anders beschrieben als Lehrer oder Arbeitskollegen wenige Woche nach meinem ersten Arbeitstag. Wurde ich in der Schule eher übersehen, war ich in vertrauten Kreisen alles andere als leise. In Gruppen wiederum bin ich ruhiger und in Zweier-Gesprächen merkt man mir meine leise Art nicht mehr an.
Erst als ich einen Artikel über „outgoing introverts“, also introvertierte Menschen mit extrovertierten Merkmalen, gelesen habe, hatte ich endlich die Antworten, nach denen ich lange gesucht habe. Es tat so gut, zu lesen, dass mit mir alles in Ordnung ist. Seitdem kenne ich mich besser und weiß nun, wann ich mich in der Vergangenheit entgegen meines Naturells verhalten habe und ich deshalb an meine Grenzen gestoßen bin.
Warum schreiben gerade die leisen Menschen?
Introvertierte Menschen neigen dazu, verkopft zu sein und die Dinge immer wieder zu durchdenken. Dass gerade leise Menschen schreiben, ist ein Weg und manchmal auch eine Notwendigkeit, die Gedanken zu sortieren und abzustellen. Auf dem Papier, aus dem Kopf – das stelle ich bei mir immer wieder fest.
Weitere Gründe, wie das Schreiben introvertierten Menschen hilft:
Schreiben ist entschleunigte Kommunikation: Wir haben mehr Zeit, um über unsere Antwort nachzudenken.
Schreiben und Lesen sind einsame Tätigkeiten und Rückzugsorte, die uns helfen, Energie zu tanken.
Beim Alleinsein kommen wir eher auf neue Ideen. In einem Essay beschreibt Science-Fiction-Autor Isaac Asimov wie Isolation die Kreativität begünstigt.
Schreiben schafft Strukturen und lässt Ideen entstehen. Eine Methode, die beides miteinander verknüpft ist das Schreibdenken von Ulrike Scheuermann.
Introvertierte Schriftsteller
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, unter Schriftstellerinnen Introvertierte zu finden. Es gibt lange Listen mit Autorinnen, die als introvertiert gelten, z. B. Franz Kafka, Joanne K. Rowling, Haruki Murakami, Emily Dickinson, Edgar Allan Poe, Virginia Woolf…
Schreiben als Stärke im Alltag nutzen
Ihr lieben, leisen Menschen, seid euch dem Schreiben als Stärke bewusst und bringt sie mehr in euren Alltag ein! Damit lässt sich manchmal sogar ausgleichen, was ihr an euch als – vermeintliche – Schwäche wahrnehmt.
Ich habe dem Schreiben deshalb viel Platz in meinem Leben eingeräumt. Durch schwierige Phasen und Entscheidungsfindungen begleitet mich mein Journal, jeden Abend reflektiere ich den Tag in meinem Tagebuch. Meine Arbeit organisiere ich mit Unmengen Notizen – auf Papier und digital. Wichtige Termine bereite ich schriftlich vor, damit mir nicht die Worte fehlen. Im Kundenkontakt setze ich E-Mails gezielt ein – und meine Art, die Dinge fundiert darzustellen und auf den Punkt zu bringen, wird dabei sehr geschätzt.
Mit Freunden kommuniziere ich schriftlich und auch das hat, je nachdem wie lang die Nachrichten werden, etwas sehr Ordnendes für mich. Und ja, auch ich weiß, dass man mit einem Anruf manchmal schneller ans Ziel kommt – und dann rufe ich an, aber nicht ohne mir vorher Notizen zu machen (zumindest wenn es geschäftliche Anrufe sind).
Introvertiert oder extrovertiert?
Mit diesem Online-Test von Sylvia Löhken findest du heraus, ob du eher introvertiert oder extrovertiert bist. Wozu neigst du und wie hilft dir das Schreiben dabei? Wann ist es vielleicht sogar eine Hürde?
Quellen und weiterführende Literatur
Löhken, Sylvia (2017): Leise Menschen – gutes Leben. Das Entwicklungsbuch für introvertierte Persönlichkeiten. Offenbach: GABAL
Scheuermann, Ulrike (2012): Schreibdenken. Schreiben als Denk- und Lernwerkzeug nutzen und vermitteln. Stuttgart: UTB.
Prag – Praha. Da bin ich also in der Stadt an der Moldau, in der Franz Kafka geschrieben und die meiste Zeit seines Lebens verbracht hat. In einem Zitat von Eichendorff heißt es: „Wer einen Dichter recht verstehen will, muß seine Heimat kennen“. Und so habe ich mich aufgemacht, Prag zu entdecken und eine literarische Annäherung zu schreiben an diese Stadt und ihren bekanntesten Schriftsteller.
Ein Spaziergang durch die Prager Altstadt
Meine erste Begegnung mit Prag sind Straßenschilder mit verschluckten Vokalen: Hrad, Mlýný, Hřbitov. Auf die frühere Zweisprachigkeit weist nichts mehr hin. Alles ist auf tschechisch ausgeschildert, selbst die Sehenswürdigkeiten für die vielen Touristen. Ich starte am Platz der Republik. Touristen schwemmen die Straße vom Altstädter Ring bis zur Karlsbrücke. Es ist ein Stimmengewirr aus spanisch, französisch, englisch, chinesisch und tschechisch. Schnell wird mir klar, dass ich Prag in den nächsten Tagen nicht für mich alleine haben werde.
Kafkas Prag im frühen 20. Jahrhundert
Franz Kafka (1883 – 1924) wuchs in einem Prag auf, in dem Tschechen, Juden und Deutsche zusammen lebten, wobei die Deutschen eine Minderheit darstellten. Als Jude gehörte er damit einer doppelten Minderheit an. Auch wenn das meiste posthum und gegen seinen Willen an die Öffentlichkeit gelangte (sein Freund und Schriftsteller Max Brod veröffentlichte seinen Nachlass), gehört das Werk Kafkas zum Kanon der Weltliteratur. Bis heute werden seine Erzählungen und insbesondere Die Verwandlung in den Schulen gelesen.
Innerhalb Prags stehen sie fast alle noch und sind fußläufig zu erreichen: Das (wiedererrichtete) Geburtshaus am Franz-Kafka-Platz, die Wohn- und Arbeitshäuser. Da wären die ehemaligen Geschäftsräume von Kafkas Vater im Kinský-Palais am Altstädter Ring, Kafkas Gymnasium auf der Rückseite und nicht weit davon entfernt das Haus Minutá, in dem Kafka mit seiner Familie lebte. Eines seiner Arbeitszimmer befand sich im Goldenen Gäßchen, auch bekannt als Alchemistengasse mit der Nr. 22 und lässt sich auf dem Hradschin besuchen.
Kafka als verbotener Autor
Dass sich seine Spuren in Prag so gut nachverfolgen lassen und sichtbar sind, ist nicht selbstverständlich. Denn es gab ein ”politisch verordnete[s] Totschweigen”, wie Wolfgang Dömling es bezeichnet. Kafkas Werk wurde während der Zeit des Nationalsozialismus und später im kommunistischen Tschechien verboten. Mit der Rehabilitierung 1963 auf der so genannten Kafka-Konferenz öffnete sich Prag allmählich für den Schriftsteller. Sein Werk ist nun vollständig ins Tschechische übersetzt worden und die Franz-Kafka-Gesellschaft widmet sich seiner Wahrnehmung in der Öffentlichkeit.
Spurensuche im Franz-Kafka-Museum
Was wäre Prag ohne Kafka? Oder anders gefragt: Was wäre Kafka ohne Prag? Dieser Frage widmet sich die Dauerausstellung Die Stadt von K.: Franz Kafka und Prag. Auf der Kleinseite, nahe der Moldau gelegen, befindet sich das Franz-Kafka-Museum. Es wurde 2005 gegründet und als Ausstellungsraum dient der Dachboden einer Ziegelei.
Im Museum ist es dunkel. Das Licht ist aus und lediglich die Tische und Glaskästen werden angestrahlt. Zwischen den Ausstellungsstücken ist das Gebälk des Dachbodens sichtbar. Es herrscht eine düstere, beklemmende Atmosphäre, die gleichzeitig das Gefühl weckt, hier Schätze heben zu können. Zitate zieren die Wände, der Stammbaum und die Wohnorte in Prag werden nachgezeichnet und hinter Glas liegen Kafkas Briefe und Korrespondenz mit Behörden sowie Erstausgaben seiner Bücher. Die Rezeption seines Werks ist ebenso Thema wie Kafkas Beziehungen und Verlobungen, die Bürokratie und seine Erwerbsarbeit bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt.
Kafkas Leben und Literatur als Rätsel
Die Ausstellung wirft Schlaglichter auf Kafkas Leben. Ein Leben für das geschriebene Wort und die Literatur, das ihn, so suggeriert es die Ausstellung, letztendlich auch isoliert hat. Prag und Kafka. Eine Stadt, von der er nie fortkam und er, der sich immer wieder fürs Schreiben entschieden hat – und sich zwischen schriftstellerischem Schaffen und seinem Brotberuf zerrieben hat:
Mein Posten ist mir unerträglich, weil er meinem einzigen Verlangen und meinem einzigen Beruf, das ist der Literatur, widerspricht. Da ich nichts anderes bin als Literatur und nichts anderes sein kann und will, so kann mich mein Posten niemals zu sich reißen, wohl aber kann er mich gänzlich zerrütten.
Franz Kafka, Tagebücher 1910 – 1923
Vieles bleibt rätselhaft. Im Museum begegnet mir mehrmals der Begriff enigma, das Rätsel. Und vielleicht passen hierzu Willy Haas’ Worte über Kafka am besten:
Ich kann es mir nicht vorstellen, wie irgendein Mensch ihn überhaupt verstehen kann, der nicht in Prag und nicht um 1890 und 1880 geboren ist.
Willy Haas, Begründer der Zeitschrift „Die literarische Welt“
Mit ihrer geheimnisvollen Atmosphäre samt zugehörigem Soundtrack macht die Ausstellung vor allem eins greifbar: das Kafkaeske.
Prag als touristische Weltstadt
Zurück in der Altstadt duftet es während meines Spaziergangs alle paar Schritte nach Zimt und Holzkohle. Es sind Trdelník, mit Zucker und Zimt bestäubte Baumstriezel, die auf langen Rollen über der Kohle backen. Sie werden serviert mit Vanille-Softeis in der Mitte und sind der Kassenschlager in den Gassen. Ich kaufe mir eins und laufe weiter. Bei einer Straßenmusikerin bleibe ich stehen. Sie sitzt auf einem Hocker, auf ihren Beinen liegt ein Instrument. Zwei aufeinanderliegende Schalenhälfte, die wie der Panzer einer Schildkröte aussehen. Mit den Handflächen schlägt sie rund herum auf die Einkerbungen. Sanfte Melodien füllen die Straßen und locken Menschen an. Das Instrument nennt sich Hang, wie ich später herausfinde. Das Video der Musikerin kann ich mir zu Hause auf YouTube ansehen, weil es einer der filmenden Touristen online gestellt hat.
Prag damals und heute
Das touristische Treiben in Prag mag nichts mit Kafkas Prag zu tun haben. Doch beim Betrachten von schwarz-weiß Bildern zu Kafkas Zeiten scheint sich nicht allzu viel geändert haben. Die Bauten sehen heute genauso herrschaftlich aus, mit dem Unterschied, dass die Fassaden inzwischen mehrmals restauriert und herausgeputzt wurden. Geschichtsträchtig und doch irgendwie zeitlos. Dieses Gefühl habe ich, wenn ich mich in Prag umsehe. Und genau so sollte Weltliteratur sein.
Quellen und weiterführende Literatur
Dömling, Wolfgang (2011): Prag. Literarische Spaziergänge. Berlin: Insel Verlag.
Kafka, Franz. Tagebücher 1910 – 1923.
Roth, Joseph (2012): Heimweh nach Prag. Feuilletons, Glossen, Reportagen für das Prager Tagblatt. Göttingen: Wallstein Verlag.
Wagenbach, Klaus (1993): Kafkas Prag. Ein Reiselesebuch. Berlin: Klaus Wagenbach.
Ich stehe in der Mittagssonne vor den Büchertischen und lasse meine Finger über die Buchränder wandern. Dabei kippe ich sie um wie Dominosteine, lasse Buchdeckel an Buchdeckel klappen auf der Suche nach nichts Bestimmten. Es war ein Zufall, der mich an diesem Samstag zu diesem Bücherflohmarkt geführt hat. Genauso absichtslos nehme ich die Bücher in die Hand.
Fundstücke auf dem Bücherflohmarkt
Zwischen vielen unbekannten Titeln entdecke ich meine alten Bücher in genau den Ausgaben, die einmal in meinem Regal standen. Irgendwann habe ich sie ungelesen weitergegeben, weil ich erkennen musste, dass ich sie wahrscheinlich nie lesen werde. Ich blättere mich durch vergilbte Seiten und stoße auf eine handgeschriebene Widmung. Einfach so steht sie da, mit schwarzem Kugelschreiber geschrieben, verewigt auf Seite eins. „Hals- und Beinbruch, sowie eine gute (Bruch-?) Landung wünscht dir kein anderer als Philipp“, lese ich.
Ich schmunzle über die Widmung, diese pointierten Wünsche für eine bevorstehende Reise. Es sind Worte, die nicht für mich bestimmt sind und für niemanden sonst. Bücher wie diese begegnen mir oft, da ich die meisten meiner Bücher gebraucht kaufe.
Widmungen erzählen Geschichten
Bei solchen Büchern stelle ich mir immer dieselben Fragen: Warum bloß wurde es weggegeben? Ist das Buch eine Erinnerung, die nichts mehr wert ist? An eine Liebe oder eine Freundschaft vielleicht. Ist es ein Buch, das erst verliehen und dann vergessen wurde? Ist es über eine Haushaltsauflösung in das Antiquariat gekommen, gebracht von den Enkeln oder Kindern in einem Umzugskarton?
Das Eigenleben der Bücher
Ich stöbere weiter und entdecke ein schmales Büchlein vom Eigenleben der Widmungen und den Geschichten, die sich daraus entspinnen lassen. In Jana Volkmanns Erzählung Fremde Worte flüchtet sich eine einstige Leserin in diese Widmungen.
Hanna hatte aufgehört, Romane zu lesen, und angefangen, Widmungen zu lesen. […] Sie hatten nur einen einzigen Adressaten, sie waren immer bloß für dich […].
Auf der Suche nach solchen Widmungen streift sie durch die Antiquariate und Flohmärkte Berlins. “Erst ganz zum Schluss schlug sie wie beiläufig, wie versehentlich die leere Seite zwischen Impressum und Vorwort auf. Und dann die leeren Seiten innen am Buchdeckel.”
Ein wenig ertappt fühle ich mich und lese weiter in den Geschichten um die Geschichte, den kleinen Schätzen aus Alltagsbeobachtungen und beschließe, es mitzunehmen.
Bücher und Geschichten auf Reisen
Da stehe ich also auf einem Umschlagplatz der Geschichten. Denke nach, über dies und jenes und Hanna, während ich meine drei ausgesuchten Bücher beim Standbesitzer bezahle. Was die Widmungen bedeuten, das wissen nur das Du und das Ich und wie sie auf den Flohmärkten gelandet sind, weiß sicher nur der Beschenkte. Meine Bücher haben noch nicht ihren letzten Besitzer gefunden. Eines Tages werde ich manche von ihnen freigeben und wer weiß, vielleicht landen sie dann auf einem dieser Bücherflohmärkte und jemand kauft sie wegen der Widmung.
Quellen und weiterführende Literatur
Volkmann, Jana (2014): Fremde Worte. Textlicht Band 9. Wien: Edition Atelier.
Eine junge Frau wie aus der Zeit gefallen: Sie sitzt auf einem Stuhl in der Zimmerecke, das Licht fällt durch die Fenster hinter ihr, die Haare sind locker zusammengeknotet, sie trägt einen Pelzkragen, der an russische Winter denken lässt, ihre Mimik mutet madonnenhaft an – ein Blick voll Sehnsucht und Melancholie.
Alles begann mit jenem Autorenfoto Judith Hermanns, über das die Kritiker mindestens genauso viel geschrieben haben wie über ihr Debüt Sommerhaus, später (1998). Die Fotografin des Bildes ist Renate von Mangoldt. „Allgemein wird gesagt, dass das Foto von Judith Hermann mein bestes sei: Es war ein heller Wintermorgen und Hermann kam, so schön wie sie war: Sie trug ein Winterkleid mit Pelzbesatz, das Licht umgab sie mit einer Aura.“ Jene unbestimmte, einnehmende, melancholische Aura, die gleichermaßen von ihren Kurzgeschichten ausgeht.
So startete Judith Hermann ihre Karriere als Schriftstellerin; bis dahin war sie eine unbekannte Berlinerin von 28 Jahren. Sommerhaus, später, ein Band mit neun Kurzgeschichten, wurde gefeiert, die Kritiker sagten ihr eine großartige Zukunft voraus. Etiketten wurden ihr dabei vielfach von Feuilletonisten aufgedrückt: Berlin-Literatur, literarisches Fräuleinwunder, der Sound einer neuen Generation, Ikone der Popkultur.
Vieles davon lässt sich aus heutiger Sicht zurückweisen: Selbst das Fräuleinwunder wurde 2004 relativiert. Dazu zählten junge deutschsprachige Debütantinnen der Jahrhundertwende wie Karen Duve, Tanja Dückers, Alexa Hennig von Lange und Zoë Jenny, die in ihren Texten das Lebensgefühl ihrer Zeit einfingen. „In der ‚Süddeutschen‘ las ich, dass man jetzt dahinter käme, dass die Autorinnen des sogenannten deutschen Fräuleinwunders im Grunde genommen gar nichts zu erzählen gehabt hätten“, erklärt Hermann. „Es würde in all diesen Texten um immer dasselbe gehen, Beziehungsprobleme nämlich, und um sonst nichts.“
Fünf Jahre nach dem Debüt meldete sich Hermann mit Nichts als Gespenster (2003) zurück: Die Kurzgeschichte wurden länger, näherten sich mehr und mehr der Erzählung an und ihre Figuren entwickelten sich weiter – sie reisten, verließen Berlin. Der Ton ihrer Geschichten blieb derselbe, doch die Kritik blieb verhalten. Ihre neuen Geschichten seien naiv und trivial – es fehle an „Geschichte und Politik und Berufsleben und Arbeitswelt, Agenten der Sozialisation, Autoritäten, Vorgesetzte, überhaupt ‚Erwachsene‘“, so Kritikerin Alexandra Pontzen.
Sechs weitere Jahre ließ sie sich Zeit, bis der Band Alice (2009) erschien – fünf Geschichten vom Sterben und dem, was bleibt, wenn man geht. Gemeinsam haben sie Alice, die in allen Geschichten auftritt und in irgendeiner Beziehung zu den Verstorbenen steht, der Fokus liegt auf den Hinterbliebenen, den Überlebenden. Die Kritik fiel positiver als beim Vorgänger aus; die Stilsicherheit habe sie beibehalten. Andere bemängelten dagegen ihren Protokollstil, dessen Angestrengtheit und Künstlichkeit.
„Vielleicht ist Alice meine eigene Antwort auf Sommerhaus, später“, sagt Hermann, „Ich kann mich fragen, was ich dann im vierten Buch schreiben werde. Und vielleicht ist mit Alice auch etwas abgeschlossen.“ Was sich wie ein Versprechen für eine andere literarische Form liest, wurde inzwischen eingelöst: Der Debüt-Roman Aller Liebe Anfang erschien im August 2014 und behandelt eine zwischenmenschliche Grenzsituation, das Stalking, die zur Bedrohung für das Ehe- und Familienleben der Hauptfigur Stella wird. Die Kritikerstimmen polarisierten erneut, was jedoch alle erwähnten, ist Hermanns konsequenter Stil aus Beobachtung, Lakonie und dem Unausgesprochenen – ob er nun gefällt, oder nicht.
Was sie auch sagen: Hermann hat sich losgeschrieben, von den Kurzgeschichten, dem Literaturbetrieb und der Erwartungshaltung. Fräulein Hermann hat es geschafft, sich von den Etiketten zu befreien und aus dem Schatten von damals hervorzutreten: Frau Hermann zeigt sich auf ihrem aktuellen Autorenfoto standhaft, lächelnd, zufrieden – 16 Jahre älter als damals, mit dem Blick nicht in ein Später gerichtet, sondern in ein Jetzt.
Hier schreibt Ann-Christin
Als Schreibpädagogin zeige ich dir, wie du die Kraft des Schreibens nutzt, um dich selbst Seite für Seite zu entdecken und besser zu verstehen. Auf Stille Seiten findest du Schreibimpulse und Reflexionsfragen für dein Tagebuch, deine persönlichen Texte oder deine Journaling-Routine.